1870
2. Januar: Ernst Barlach wird als Sohn des Landarztes Georg Barlach und dessen Frau Johanna Louise (geb. Vollert) in Wedel (Holstein) geboren.
1888-1891
Studium an der Gewerbeschule Hamburg.
1891-1895
Studium an der Kunstakademie Dresden.
1895/96
Studium in Paris, u.a. an der Académie Julian.
In den folgenden Jahren arbeitet Barlach vorwiegend als Bildhauer in Hamburg und Altona, wobei er sich noch stark an den Maßgaben von Jugendstil und Symbolismus orientiert.
1898-1902
Arbeit als Zeichner für die Zeitschrift "Jugend".
1904
Tätigkeit als Lehrer an der Fachschule für Keramik in Höhr/Westerwald.
1906
Barlach unternimmt in Begleitung seines Bruders eine achtwöchige Reise nach Rußland und in die Ukraine. Diese Reise prägt seinen eigenen, von psychischer Ausdruckskraft erfüllten künstlerischen Stil.
1907/08
Barlach zeichnet für die Münchener Satirezeitschrift "Simplicissimus".
Er ist Mitglied in der "Berliner Secession".
In dieser Zeit beginnt er auch seine Tätigkeit als Schriftsteller.
1909
Barlach bezieht ein Atelier in Florenz, das ihm durch ein Villa-Romana-Stipendium zur Verfügung gestellt wird.
1910
Umzug nach Güstrow/Mecklenburg.
Barlach fällt immer eine gesonderte Rolle innerhalb des deutschen Expressionismus zu. Er reduziert das Äußere, d.h. den Körper seiner Figuren, auf das Nötigste, um in ihren Gesichtern und Händen seine innere Verfassung darzustellen.
1914
Barlach beginnt mit der Arbeit an der Figur "Der Rächer".
1915/16
Barlach erlebt als Landsturmmann in Sonderburg (heute: Dänemark) den Ersten Weltkrieg.
In der nachfolgenden Zeit treten verstärkt biblische Motive und die Kampfthematik in seinem Werk auf.
1919
Mitglied der Preußischen Akademie der Künste.
Durch diese Aufnahme sowie die Veröffentlichung seiner Dramen und Holzschnittzyklen durch den Kunsthändler Paul Cassirer findet Barlach sowohl als Schriftsteller wie auch als Graphiker breite Anerkennung in der Öffentlichkeit.
1924
Ehrung seiner dramatischen Arbeiten durch die Verleihung des Kleistpreises.
1925
Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste München.
ab 1926
Barlach beginnt, öffentliche Aufträge zu plastischen Antikriegs-Denkmälern auszuführen (u.a. 1928/29 Ehrendenkmal im Magdeburger Dom, 1928 "Geistkämpfer" in Kiel). Angriffe und Kritik bleiben jedoch nicht aus, so daß Barlach die Entwürfe für Malchin und Stralsund zurückziehen und den Figurenfries an der Lübecker Katharinenkirche unvollendet lassen muß.
1933
Wahl zum Ritter der Friedensklasse des Ordens "Pour le Mérite".
1936
Barlachs Werke werden mit denen von Käthe Kollwitz und Wilhelm Lehmbruck in der Jubiläumsausstellung der Preußischen Akademie der Künste beschlagnahmt.
1937
Beschlagnahmung von 371 seiner Arbeiten und Erteilung eines Ausstellungsverbots durch die Nationalsozialisten.
Die Figurengruppe "Christus und Johannes" wird in der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt.
Werke aus dieser Zeit wie "Das schlimme Jahr 1937" oder "Frierende Alte" spiegeln seine Situation innerhalb der Gesellschaft, die Erfahrung des Ausgestoßenseins, des erlebten Hasses und der Verachtung wider.
1938
24. Oktober: Ernst Barlach stirbt in Rostock und wird auf dem Friedhof St. Petri in Ratzeburg beigesetzt.
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Dann wurde er sich der Anwesenheit der Figur bewusst. Sie saß, klein, auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Gregor näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt, zu beiden Seiten der Stirne, die Ohren und die Schläfen verdeckend. Seine Augenbrauen mündeten wie Blätter in den Stamm der geraden Nase, die einen tiefen Schatten auf seine rechte Gesichtshälfte warf. Sein Mund war nicht zu klein und nicht zu groß; er war genau richtig, und ohne Anstrengung geschlossen. Auch die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber sie waren es nicht, der junge Mann schlief nicht, er hatte nur die Angewohnheit, die Augendeckel fast zu schließen, während er las. Die Spalten, die seine sehr großen Augendeckel gerade noch freiließen, waren geschwungen, zwei großzügige und ernste Kurven, in den Augenwinkeln so unmerklich gekrümmt, dass auch Witz in ihnen nistete. Sein Gesicht war ein fast reines Oval, in ein Kinn ausmündend, das fein, aber nicht schwach, sondern gelassen den Mund trug. Sein Körper unter dem Kittel musste mager sein, mager und zart; er durfte offenbar den jungen Mann beim Lesen nicht stören.
Das sind ja wir, dachte Gregor. Er beugte sich herab zu dem jungen Mann, der, kaum einen halben Meter groß, auf seinem niedrigen Sockel saß, und sah ihm ins Gesicht. Genau so sind wir in der Lenin-Akademie gesessen und genau so haben wir gelesen, gelesen, gelesen. Vielleicht haben wir die Arme dabei aufgestützt, vielleicht haben wir papirossi dabei geraucht - obwohl es nicht erwünscht war - , vielleicht haben wir manchmal aufgeblickt, - aber wir haben den Glockenturm Iwan Weliki vor dem Fenster nicht gesehen, ich schwöre es, dachte Gregor, so versunken waren wir. So versunken wie er. Er ist wir. Wie alt ist er? So alt wie wir waren, als wir genau so lasen. Achtzehn, höchstens achtzehn. Gregor bückte sich tiefer, um dem jungen Mann gänzlich ins Gesicht sehen zu können. Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt. Aber dann bemerkte er auf einmal, dass der junge Mann ganz anders war. Er war gar nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektüre hingegeben. Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese. Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden Augenblick einen Finger auf den Text zu führen, der zeigen würde: das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.
Liest er denn nicht einen seiner heiligen Texte, dachte Gregor. Ist er denn nicht wie ein junger Mönch? Kann man das: ein junger Mönch sein und sich nicht von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte nehmen und trotzdem frei bleiben? Nach den Regeln leben, ohne den Geist zu binden?
Gregor richtete sich auf. Er war verwirrt. Er beobachtete den jungen Mann, der weiterlas, als sei nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen, dachte Gregor. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann und dennoch aufstehen und fortgehen. Er blickte mit einer Art von Neid auf die Figur.